Das Banat – immer noch ein Dorf
Eindrücke von meiner Reise
Wie klein ist doch die Welt, heißt ein Spruch, den es ähnlich auch in anderen Sprachen gibt, was für eine weltumfassende Erkenntnis! Darauf werde ich später eingehen. Lange habe ich überlegt, ob ich überhaupt zu meinem Besuch in Billed nach 35 Jahren und in Temeswar nach 40 Jahren überhaupt etwas schreiben soll. Es wurden im Heimatblatt schon viele Artikel über Billed oder auch Temeswar, bei besonderen Ereignissen (z.B. Kulturhauptstadt 2023) geschrieben, von nostalgisch-verklärend bis zu analytisch-polarisierend.
„Mach es erinnerbar“, schrieb ein unbekannter Autor, dieses Schild hing auf Englisch in unserer angemieteten Wohnung in Temeswar. Auf diesen Pfad begab ich mich im Mai 2024; dabei möchte ich weder etwas schönschreiben, noch schlechtreden. Mein Schwerpunkt liegt auf Temeswar, da wir dort mehr Zeit verbracht haben als in Billed. In das vielzitierte Paradies der Erinnerungen wollte ich eintauchen, was mir teilweise gelang. Manches schien mir dabei vertraut, vieles war mir fremd und noch mehr neu oder unbekannt. Vielleicht war es die Suche nach der vergangenen oder verloren geglaubten Zeit; eine Gelegenheit, Verpasstes nachzuholen am Abend des Lebens, Spuren von fast erloschenen Erinnerungen zu suchen.
Zuerst möchte ich, mehr oder weniger ausführlich, auf die besuchten Orte eingehen, danach über Begegnungen berichten, die das Banat als ein Dorf erkennen lassen. Zuletzt werde ich über unsere Unternehmungen schreiben und einen Vergleich zwischen dem Gestern und dem Heute in der Lebensweise anstellen.
Selbstverständlich beginne ich mit Billed. Da wir in Temeswar wohnten, erreichten wir unser früheres Heimatdorf relativ bequem und einfach mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, nämlich mit der Straßenbahn und dem Bus. Sobald wir die Stadt verlassen hatten, war es wieder da: das Gefühl der unendlichen Weite und der fast unbegrenzten Freiheit für die Augen und das Blickfeld, mit den vertrauten „Pipatsche“ und den Kornblumen am Wegrand oder vereinzelt in den Feldern. In Billed waren wir bei den Familien Klein und Nachram zu Gast. Zu Fuß gingen wir in die Viertgasse, begleitet vom gerade in Billed zu Besuch weilenden Sepp, danach in die Sauländergasse. Die Straßen haben jetzt alle Schilder mit Blumennamen. Diese sind relativ neutral und historisch nicht belastet, denn bereits in Temeswar waren uns die vielen alten, getilgten (da sozialistischen) und die neuen Straßennamen (mit Bekenntnis zur nicht-sozialistischen Geschichte) aufgefallen. Unser Straßenname erinnerte mich an das große Maiglöckchenfeld direkt hinter der Mauer neben unserem Tor, das jedes Jahr einen unwiderstehlichen Duft verströmte. An meinem ehemaligen Elternhaus mit hohem, geschlossenem Tor, wie bei den meisten, habe ich außer dem vertrauten Schriftzug auf dem Giebel mit dem Namen meiner Eltern und dem Jahr der Renovierung, 1960, nichts wiedererkannt. Für mich war das zum Glück keine Enttäuschung, denn vom kompletten Umbau hatte meine Schwester schon berichtet. Ähnlich ging es mir mit den Häusern aus der Nachbarschaft. Vertraut waren mir die heute eher seltenen Maulbeer- und Akazien-(Robinien)bäume, neu für mich die Sauerkirschbäume auf den Straßen, an denen ich fast nicht vorbeikam, ohne ein paar zu probieren. So ist es immer noch mit den Kirschen aus Nachbars Garten… Auf dem Friedhof dachten wir an unsere Verwandten, die hier vor einem halben Leben ihre letzte Ruhestätte fanden. Unsere Geschichte brachte es mit sich, dass inzwischen schon viele rumänische Namen auf den anderen Kreuzen stehen.
Ein kurzer Ausflug an die Sauländer Brücke offenbarte sich mir als grünes, üppig wucherndes Pflanzenparadies, ich sah eine sehr verkleinerte „Kiehhalt“ und auch die erneuerte Viehtränke. Als wir als Kinder diesen Ort besuchten, fragten wir uns oft, wo die Kühe noch Gras finden sollen, das Gebiet kam uns in der Sommerhitze wie verbrannte Erde vor. Im seligen Garten der Erinnerung an eine unbeschwerte Kindheit fällt mir immer sofort die mir damals grenzenlos erscheinende Freiheit ein. Unser „Spielplatz“ war die Straße oder das selbstgebaute Puppenhaus, ohne dass die Eltern sich viel um uns sorgten. Wir „Straßenkinder“ waren in vielem vereint, teilten Gut und Böse, Streit und Versöhnung, unsere Interessen und unsere wenigen Spielsachen miteinander. Weniger ist oft mehr, auch damals schon.
Da die Kirche außerhalb der Gottesdienste verschlossen ist, öffnete der Pfarrer, Herr Bonaventura Dumea, die Sakristei, durch die wir in die Kirche gelangten. Hier gab es für mich viel Bekanntes und Erhaltenes, die alten Bänke mit ihren Gebrauchsspuren, die Teppiche, über die schon unzählige Füße gegangen sind, die renovierten Altarbilder. Sehr interessant und kurzweilig war das Gespräch mit dem Pfarrer, der mit über 80 noch sehr aktiv ist und ein sehr gutes Gedächtnis hat. Er berichtete uns von früher, teilte aber auch seine Sorgen mit uns, was die rückläufige Zahl der Kirchengänger und Kultuszahler betrifft.
Mit Bruni und Michel fuhren wir langsam mit ihrem Auto durch das Dorf und hörten aufmerksam unserer „Reiseleiterin“ Bruni zu, denn sie kennt so gut wie alle ehemaligen und heutigen Hausbewohner, teils über mehrere Generationen. Unser letzter Halt an unserem Billeder Tag führte uns ins Haus der Heimat, wo Roswitha und Adi uns freundlich begrüßten. Für uns war dies komplettes Neuland, deshalb zeigte uns Adi die verschiedenen Räumlichkeiten und führte uns zuletzt durch die sehr sehenswerte Ausstellung mit Haushalts- und Gebrauchsgegenständen aller Art aus der Zeit unserer Vorfahren, Werkzeugen, Utensilien für die Landwirtschaft, alten Möbeln usw. Besonders beeindruckt hat mich dort die Kopie des Triptychons „Wider das Vergessen“ des Banater Künstlers Helmut Scheibling, welches eine Kurzfassung der Geschichte und des Schicksals der Banater Schwaben in gemalter Form ist, entstanden in Anlehnung an das Einwanderungsbild von Stefan Jäger. Berücksichtigt hat der Künstler dabei alle Gegensätze nicht nur im Leben der Banater, sondern auch allgemein menschliche Pole im Kreislauf des Lebens, wie Aufbruch und Rückkehr, Trauer und Lebensfreude, Not und Wohlstand, Krieg und Frieden. Wir kennen ihn alle, den Siedlerspruch von den Ersten der Tod, den Zweiten die Not und erst den Dritten das Brot. Vertreibung und Flucht wären noch hinzuzufügen. Da wir den letzten Bus nach Temeswar nicht verpassen wollten, konnten wir in Billed nicht länger verweilen.
Ein kurzer Besuch führte uns am nächsten Tag mit dem Taxi nach Uiwar, dem Heimatdorf meines Vaters. Auch das Grab meiner Groß- und Urgroßeltern gibt es noch, mein Opa verstarb, als ich drei Jahre alt war. Am Haus der Großeltern war kein Stein auf dem anderen geblieben, alles wurde erneuert. Schöne Kindheitserinnerungen verbinde ich trotzdem mit Uiwar, wo ich oft einige Wochen in den Sommerferien verbrachte und auch Spielkameradinnen hatte. Unser Taxifahrer ist übrigens, rein zufällig, ein Freund eines unserer noch wenigen Bekannten in Billed… das Banat, ein Dorf.
Die Fahrt am Folgetag nach Radna mit dem Zug entpuppte sich als schmutziges und unbequemes Abenteuer, die Zugtreppen, wo wir Mädchen uns früher oft die Strumpfhose zerrissen, sind noch genauso hoch. Die altvertraute Kirche Maria Radna selbst ist hingegen bestens erhalten. Wir waren die einzigen Besucher vor Ort und trafen keine Menschenseele. Allein die Schwalben zwitscherten uns ein Liedchen, als sie in der Kirche zu ihren Nestern ein- und ausflogen. Als Kinder hatten wir uns immer sehr auf die Wallfahrt nach Radna gefreut, lange bevor wir jemals von dem inzwischen weltberühmten Jakobsweg gehört hatten. Radna war landschaftlich durch die sanften Hügel eine willkommene Abwechslung für uns, aber auch die Buden mit den bunten Zuckerstangen und der süßen Zuckerwatte waren eine verlockende Aussicht für uns Kinder. Davon gab es jetzt keine Spur mehr, wohl eher unrentabel, wo man jetzt alles in den Geschäften kaufen kann.
Dass das Banat immer noch ein Dorf ist, wo jeder fast jeden kennt, wenn auch um viele Ecken, habe ich bei einer weiteren Begegnung erfahren. Auf der „vaporeta“, wo man eine winzige „Flusskreuzfahrt“ innerhalb der Stadtgrenzen auf der Bega unternehmen kann, trafen wir eine Gruppe mit fünf Donauschwaben aus verschiedenen Dörfern. Beim Gespräch mit uns stellte sich heraus, dass die eine die Kusine meiner ehemaligen Schulkollegin aus dem Lenau-Lyzeum ist, eine andere kennt die Familie T. aus Billed und einer mit dem gleichen Familiennamen ist mit meiner zweiten Kusine verheiratet. Eine andere war mit Herta Müller in einer Klasse, zu deren ersten Lesungen ich früher mit meiner Freundin ins AMG-Haus gegangen war. So klein ist die Welt bzw. das Banat ist ein Dorf! Und nicht im Traum hätten wir damals bei den Lesungen daran gedacht, dass vor uns eine künftige Nobelpreisträgerin für Literatur saß!
Die meiste Zeit unseres Aufenthalts verbrachten wir in der bestens renovierten Altstadt von Temeswar. Nach meiner Auswanderung entdeckte ich für mich die Geschichte neu; das Interesse daran hatte schon Prof. Töpfer in Billed bei mir geweckt. Bei einem Spaziergang zur Maria-Statue erfuhr ich etwas über das Schicksal von Gheorghe Doja, Anführer eines Bauernaufstandes und sein schreckliches Ende. Unweit des Lenau-Lyzeums befindet sich eine der drei noch vorhandenen Synagogen, in maurischem Stil, an der ich früher achtlos und in Eile vorbeigegangen bin. Der jüdische Friedhof war mir nicht bekannt, stand aber jetzt auf meiner Liste mit den zu besuchenden Orten. Bei meiner Wanderung über die von Gras und Klatschmohn überwucherten Wege mit sehr alten Grabsteinen, teils in hebräischer Schrift, beeindruckte und berührte mich ein Grabstein besonders. Er erinnerte die Nachgeborenen wie uns an sieben Mitglieder einer gewissen Familie Fröhlich, die in die Todeslager nach Transnistrien verschleppt worden waren, ohne Rückkehr. Und wieder kann man hier eine Parallele ziehen zum Schicksal der Donauschwaben, denn auch sie kennen die Themen Zwangsarbeit und Verschleppung, nach Russland und in den Baragan, für so manche auch unsrer Landsleute war es eine Fahrt ohne Heimkehr. Der jüdische Friedhof ist in zweierlei Hinsicht ein toter Friedhof, denn es gibt dort kaum noch neuere Gräber. Noch ca. 200 ältere Bewohner jüdischen Glaubens leben angeblich in der Stadt, auch sie hat der ehemalige Diktator gegen Warenlieferungen, über Jahrzehnte hinweg, meist nach Israel „verkauft“.
Der schläfrige Rosenpark zeigte uns gerade noch seine volle Blütenpracht, ansonsten herrschte dort bei unseren Besuchen perfekte Stille, unterbrochen nur durch Vogelgezwitscher und Grillenzirpen. Ein Besuch im Museum des Banats war leider nicht möglich, da es seit 2010 renoviert wird. In einem Seitenflügel konnten wir die durch viele Goldornamente beeindruckende Ausstellung des Künstlers Silviu Oravitzan bestaunen, sie hieß „Im Zeichen des Kreuzes“. Am Opernplatz gibt es auch noch die alte Kunstgalerie Helios, in der mir meine Freundin vor gefühlt hundert Jahren u.a. den Unterschied zwischen Impressionismus und Expressionismus erklärte. Gleich daneben gibt es noch immer eine große Buchhandlung, die jetzt nicht mehr „Eminescu“ heißt, sondern „Carturesti“, wo mir wieder einmal die große Anzahl an englischen Büchern aufgefallen ist, von denen wir früher nur träumen konnten. Ich kaufte mir einen Stadtführer von Temeswar, nur zweisprachig rumänisch / englisch erhältlich. Übrigens: Eine kleine Buchhandlung mit dem alten Namen „Eminescu“ entdeckte ich zufällig in einer Seitenstraße. Im alten Barockpalais am Domplatz ist das Kunstmuseum untergebracht, wo man einen Streifzug durch drei Jahrhunderte Kunstgeschichte aus verschiedenen Epochen unternehmen kann, mit religiöser und weltlicher Kunst, anonymen und bekannten Malern und Bildhauern. Es war mir einen Besuch wert, mit leider zu wenig Zeit.
Was den Vergleich zwischen der gestrigen und der heutigen Welt betrifft, so ließe sich viel berichten, nur einiges möchte ich erwähnen. Der rumänische Wortschatz hat sich sehr gewandelt, genauso wie die dortige Welt, die ich vor 40 Jahren verlassen habe. Auf den Straßen hört man, nach der rumänischen, am zweithäufigsten die ungarische Sprache. Deutsch wird eher von Besuchern wie uns oder Touristen gesprochen. Den Anschluss an die digitale Welt scheint man geschafft zu haben. Selbst beim Bäcker ist Kartenzahlung auch für kleine Beträge möglich bis erwünscht. Viele Essensboten sind tagsüber mit den Fahrrädern unterwegs, erkennbar an den geräumigen Behältern auf ihren Rücken. Wir ließen uns oft treiben, mal flanierten wir an der Bega unter den Schatten spendenden Weiden entlang, mal führte unser Weg zum Markt 700, um die Augen an der Riesenauswahl an Blumensträußen und Kränzen weiden zu lassen oder aber den vermeintlich besten Langosch in der Stadt zu essen. Fast täglich waren Piata Victoriei / Siegesplatz (nach der Revolution 1989), Piata Libertatii / Freiheitsplatz und Piata Unirii / Domplatz uns einen Besuch wert, ausgerüstet mit dem neuen Stadtführer. Wir hatten fast nur gutes Wetter, somit schien die ganze Stadt auf den Beinen, voller Lebensfreude, ganz anders als in den tristen Zeiten des Mangels. Morgens weckte uns manchmal der Ruf des Popen, verstärkt durch ein Mikrofon, aus der nahe gelegenen Kathedrale, was uns entfernt an den Ruf des Muezzins in den muslimischen Ländern erinnerte. Abends saßen wir oft lange auf einer Bank am Freiheitsplatz, wo ein Pianist traumhafte Melodien spielte, ganz dezent und voller Hingabe.
Nicht zuletzt möchte ich noch auf die kulinarischen Köstlichkeiten eingehen, die es immer noch gibt, manche nicht überall. Wir haben viel frischen „Prinzl“ mit schmackhaften, sonnengereiften Tomaten gegessen, in der Konditorei gab es immer noch Dobosch und Savarine im Angebot, in den Restaurants oft „Mici“ und „Sarmale“.
Für mich war es eine Reise für alle Sinne, es gab viel zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken. Bekanntes und Vertrautes, aber auch Neues und Fremdes.
„Verba volant, scripta manent“, d.h. „Worte verfliegen, der geschriebene Buchstabe bleibt“. Das wusste man bereits, als Latein noch die Sprache der Kirche und der Wissenschaft war. Wenn ich diese Erkenntnis schon in jüngeren Lebensjahren gehabt hätte, wären evtl. einige Erinnerungslücken von heute vermeidbar gewesen. Heute kann man fast alles googeln, nicht aber die Erinnerungen.
Und trotzdem, mein Fazit: Schön war’s, gut erinnerbar und ziemlich unvergesslich!
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